10 Jahre nach Lehman – ein Streifzug durch die Finanzwelt mit Helge Peukert


Elke Schenk

globalcrisis/globalchange NEWS 15.9.2018

https://www.nachdenkseiten.de/?p=46016

Titel: 10 Jahre nach Lehman – ein Streifzug durch die Finanzwelt mit Helge Peukert

Datum: 14. September 2018

Am 15. September jährt sich die Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers bereits zum zehnten Mal. Es kam zur „Kernschmelze“ im Finanzsystem, Rettungsschirme wurden aufgespannt, milliardenschwere Konjunkturprogramme beschlossen, Banken waren plötzlich „too big to fail“ und wurden reihenweise für „systemrelevant“ erklärt. Thomas Trares sprach für die NachDenkSeiten mit dem heterodoxen Ökonomen Helge Peukert[*] darüber, ob eine solche Krise auch heute noch möglich wäre und was die Politik eigentlich getan hat, um dies zu verhindern. […]

Herr Peukert, Sie haben in ihrem, in aktualisierter Auflage 2013 erschienenen, Buch „Die große Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise“ die Lehman-Pleite und die Geschehnisse danach aufgearbeitet. Die Regierenden versprachen uns damals „kein Markt, kein Produkt, kein Akteur sollen künftig unreguliert bleiben“. Wie sieht heute ihr Fazit aus? Können Sie den Satz so unterschreiben? Kann man sagen „Auftrag erfüllt“?

Ehrlich gesagt, habe ich dieser Selbstaufforderung zur Regulierung schon damals überhaupt keinen Glauben geschenkt. Im Unterschied zur Aufarbeitung der Weltwirtschaftskrise, nach der das Politpersonal ausgewechselt wurde, ein Trennbankensystem eingeführt und zahlreiche sinnvolle Begrenzungen der Aktivitäten von Banken wie das Verbot des Eigenhandels durchgesetzt wurden, haben sich nach der großen Finanzkrise die Böcke als Gärtner verkleidet, die sich – einschließlich der EZB – jetzt als Agenda Setter der Regulierung aufspielen. Die Wählerschar hat sie leider weitgehend gewähren lassen. Der oben zitierte Satz wurde ja von Leuten und Institutionen wie der G 20 oder der EU-Kommission herausposaunt, die zur Internationale der Globalisten aus Politestablishment, der Finanzgroßwirtschaft und ihrer EZB, multinationalen Unternehmen, Reichen und zu meinem besonderen Ärger Inside-Job-Wirtschaftswissenschaftlern gehören. Die spezialdemokratisch-konservativen Politestablishments sind mittlerweile europaweit fast überall abgeschossen oder zumindest stark abgestraft worden. Leider geht des Volkes Zorn meist in Richtungen, die ihre Interessen und ihren Wunsch auf Anerkennung noch deutlicher verletzen. Auftrag erfüllt? Dieser Auftrag sicherlich nicht.

Internationale der Globalisten, Politestablishment, Finanzgroßwirtschaft, Inside-Job-Wirtschaftswissenschaftler, das klingt nicht gerade sehr schmeichelhaft.

Das kann es auch leider nicht. Denn nur das eigentliche Ziel des Globalistenkartells, selbst möglichst ungeschoren davonzukommen und aus der Krise das Bestmögliche für sich zu machen, haben sie erfüllt. So sind die Megabanken heute (relativ) noch größer, die Reichen auch dank der Geldpolitik der EZB, die zu einer Vermögenspreisinflation führt, reicher und am Beispiel der Griechen hat man mal gezeigt, wo der Hammer hängt: „never waste a good crisis!“. Und das dienstbare GroKo-Politestablishment in Europa ist entweder abgetreten worden, oder es gibt brav bei: Finanzminister Scholz wirbt für eine „Neubewertung“ des Finanzsektors und viele Akteure stellen per Selbstdiagnose eine erhebliche „Reformmüdigkeit“ fest.

Apropos Scholz. Mit Jörg Kukies hat er ja ausgerechnet einen Investmentbanker von Goldman Sachs ins Finanzministerium geholt. Hat Scholz damit nicht gerade den „Bock zum Gärtner“ gemacht? Was verspricht er sich davon?

Scholz´ Herz schlägt für die Deutsche Bank, die doch die deutschen corporate interests tatkräftig unterstützen müsse. Die staatliche Sympathie eines Zusammenschlusses von Deutsche Bank und Commerzbank zu einem neuen nationalen Champion wird nicht nur von ihm angedacht, nachdem sich die für den Steuerzahler teure und für die Aktionäre der Allianz segensreiche Unterstützung der Commerzbank durch den Staat beim Ankauf der Dresdner Bank nach der Finanzkrise als grandiose Schnapsidee von Personen entpuppte, die in der CDU und SPD mittlerweile die Karrieretreppe hinauffielen.

Doch damit noch nicht genug gescholzt: Den de facto überdimensionierten und weitgehend sinnlosen Derivatehandel und dessen mit Klumpenrisiken behaftetes Clearing müsse man unbedingt von London nach Deutschland locken (Mieter in Frankfurt aufgehorcht), die Finanztransaktionssteuer gehöre natürlich elementar eingeschrumpft und die anscheinend zu harte Besteuerung der Boni-Empfänger im Finanzsektor müsse überdacht werden, da ansonsten schlechte Stimmung beim Umzug der Londoner Master of the Universe einträte.

Und wenn man schon einmal dabei ist: Eine Digitalsteuer für die Steuerdrücker wie Google und Apple ist nach Scholzscher Logik natürlich auch abzulehnen (siehe die diesbezügliche Steuersenkungssenkungsassistenz von Deutsche Bank Research vom 6.9.2018). Gleiches gilt für das angedachte Country-to-Country-Reporting der Einnahmen und Ausgaben der Multis, das dazu dienen sollte, ihren Steuervermeidungstricks besser auf die Schliche zu kommen.

Und um dieses Programm durchzusetzen, hat Scholz, wie schon von Ihnen erwähnt, Jörg Kukies ins Finanzministerium geholt – einen Vorgänger Nahles´ in einem Landesverband als Juso-Vorsitzender, der als Studierender in den USA eingenordet wurde und in Chicago promovierte, seit 2007 bei Goldman Sachs tätig war und dort zum Co-Vorsitzenden in Deutschland aufstieg. Jetzt ist er dank Scholz Staatsekretär für Europa und Finanzmärkte. Da bedarf es dann kaum noch einer regulatorischen Kaperung durch die Finanzgroßwirtschaft. Zu Kukies Fehlprognosen empfehle ich übrigens den sehr erheiternden Artikel von Dennis Kremer in der FAZ vom 28.3.2018. […]

In ihrem Buch zur Krise haben sie eine Reihe von Maßnahmen zur Bankenregulierung diskutiert. Dies wären ein Trennbankensystem, also die Abtrennung der Investmentbanken vom Kredit- und Einlagengeschäft, eine Größenbegrenzung für Banken, schärfere Eigenkapitalvorschriften, die Begrenzung des Derivatehandels, eine Finanzmarkttransaktionssteuer, das Verbot von Kreditausfallversicherungen und Leerverkäufen ebenso wie von Zweckgesellschaften und Verbriefungen und eine Reform der Ratingagenturen und least but not least die Einführung eines Vollgeldsystems. Was davon sehen Sie bereits in Ihrem Sinne umgesetzt?

Also kurz geantwortet: umgesetzt wurde davon eigentlich gar nichts. Praktisch völlige Fehlanzeige liegt – trotz eines völlig wirkungslosen deutschen Minigesetzes – hinsichtlich eines Trennbankensystems, eines Vollgeldsystems, einer Größenbegrenzung von Finanzinstitutionen und der Finanztransaktionssteuer vor, die maximal in Form einer harmlosen Börsenumsatzsteuer kommt und die die Finanzbranche, richtig umgesetzt und zum Beispiel auch auf Optionen erhoben, wenigstens etwas an den Billionenkosten der Finanzkrise beteiligen würde.

Insbesondere hätte eine Finanztransaktionssteuer aber – selbst in der Variante des EU-Kommissionsvorschlags – den Derivatehandel merklich schrumpfen lassen, da sie auf den Gesamtwert und nicht auf die sehr viel niedrigere Einschusszahlung berechnet würde. Deshalb hat die Bankenlobby auch so beeindruckend unsachlich dagegen agitiert. Immense Kosten für die armen Riester-Rentner wurden an die Wand gemalt, usw.

Und wie sieht es bei den Ratingagenturen aus? Hier hört man in punkto Regulierung ja schon lange nichts mehr?

Die Ratingagenturen spielen eigentlich die gleiche zentrale Rolle wie früher, selbst für die Beurteilung der Bonität von Wertpapieren, die die EZB im Zuge der Hauptrefinanzierungsgeschäfte hereinnimmt. Nur ein gewisses Rotationsprinzip soll das Problem von Gefälligkeitsbeurteilungen mindern. Meiner Meinung nach sind Ratings von Ländern und Großbanken sowieso fast unmöglich, da deren Portfolio meist sehr komplex und unübersichtlich ist und sich an den unübersichtlichen Finanzmärkten von heute auf morgen schnell was ändern kann, so dass gestern als sicher eingeschätzte Finanztitel heute schon Makulatur und ganz anders zu beurteilen sind. Radikale Unsicherheit ist eben der heutige Normalzustand.

Aber zumindest bei den Eigenkapitalvorschriften ist ja schon einiges geschehen.

Die neuen Eigenkapitalvorschriften nach Basel III sind nach wie vor – und obwohl sie schon Zusatzkosten für die Banken bedeuten – eine gewisse Mogelpackung, da sie sich auf die gewichtete Bilanz beziehen und z.B. – als europäischer Insiderwitz – nach wie vor Staatsanleihen als todsicher gelten und für sie kein Eigenkapital hinterlegt werden muss; nicht zuletzt dank Draghis OMT-Versicherung bestehen z.B. zehn Prozent der Vermögenswerte italienischer Banken in italienischen Staatsanleihen. Wenn man neben viel Brimborium um Fachausdrücke und diese und jene Eigenkapitalkategorie und Sonderzuschläge weglässt, mit der sich wenigstens interessierte Laien abschrecken lassen, betragen die ungewichteten Eigenkapitalvorschriften jetzt drei bis sieben Prozent – so viel hatte auch Lehman Brothers vor dem Absturz. Ähnlich wie Martin Hellwig halte ich 30 Prozent für einen angemessenen Stoßdämpfer, ohne allerdings hohe Eigenkapitalpuffer zu überschätzen, da Eigenkapital ja nicht als Geld in einem Tresor liegt und nur darauf wartet, abgerufen zu werden, sondern in irgendeiner Form gebunden ist und diese Sach- oder Vermögenswerte eventuell nicht oder nur schwer verkäuflich sind und Eigenkapital bilanziell nur einen Differenzbetrag zwischen der Aktiv- und der Passivseite der Bilanz darstellt.

Und was ist mit Zweckgesellschaften, Verbriefungen, Kreditausfallversicherungen und Leerverkäufen? Das sind ja alles Vokabeln, die uns nach der Lehman-Pleite jeden Tag um die Ohren gehauen wurden. Heute hört man auch hiervon so gut wie gar nichts mehr. Was ist hier passiert?

Das Problem bei der Diskussion all dieser Einzelmaßnahmen besteht darin, dass man nicht zuletzt auf der EU-Ebene eine gigantische Regelungsmaschinerie mit unzähligen Verordnungen, Richtlinien, technischen Durchführungsbestimmungen usw. und eine munter expandierende Kontrollbürokratie ins Leben rief, deren expertokratische Details wohl niemand mehr in toto so ganz überblickt oder sie hier in Kürze darstellen könnte. Die zu beobachtende Detailwut geht vor allem zu Lasten der kleineren Kreditinstitute, die die unzähligen Dokumentationspflichten viel schwerer als die größeren Akteure verkraften können. Dies Vorgehen liegt daran, dass man vor tiefgreifenden Reformen zurückschreckte und die umgesetzten Reförmchen nicht zuletzt dank Finanzlobby, Vorabbeschlüssen der halböffentlichen Schattenmächte (Baseler Ausschuss, Normierungsgremien usw.) und nationaler Egoismen zu vielen Ausnahmen, Sonderregeln usw. führten.

Können Sie dies an einem Beispiel verdeutlichen?

Nehmen wir die Leerverkäufe, d.h. vereinbarte Verkäufe von Wertpapieren von A an B zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft bei Erwartung von A, dass der vor Verkauf an B zu tätigende Ankauf der Wertpapiere unter dem vereinbarten Preis liegt. Man hat sich nicht, wie selbst Hans-Werner Sinn forderte, für ein klares und allgemein verständliches Verbot der Leerverkäufe ausgesprochen, sondern verbietet nur ungedeckte Leerverkäufe, d.h. derjenige, der den Leerverkauf vornimmt, muss entsprechende Wertpapiere zwischenzeitlich auch tatsächlich erworben haben. Immerhin und schön und gut. Aber der spekulierende Leerverkäufer kann sich beispielsweise bei einem Indexfonds die Wertpapiere ausleihen und schon ist es ein gedeckter. Er muss diese dem Manager des Indexfonds, der sich über Zusatzeinnahmen freut, aber wieder zurückgeben und steht dann eventuell beim Fälligkeitszeitpunkt doch mit leeren Händen da und die zurückzugebenden Wertpapiere können dann am Markt nicht vorrätig oder entgegen den Erwartungen (zu) teuer sein. Der Systemstabilität ist durch eine solch halbherzige Regulierung zumindest nicht gedient. […]

Was müsste aus Ihrer Sicht noch dringend an Regulierung geschehen?

So einiges, ich zähle mal auf: Es findet trotz nur bescheidener (siehe z.B. die Richtlinie 2011/61/EU über die Verwaltung alternativer Investmentfonds) und indirekter Regulierungsschritte ein Abwandern von Personal und Aktivitäten in den Bereich der Schattenbanken (Geldmarktfonds, Hedgefonds, usw.) und generell ein Verdrängungsprozess statt. Schattenbanken verfügen zwar über kein Geldschöpfungsprivileg, sie betreiben aber bankenähnliche Geschäfte. Sie sind bis dato weitgehend unterreguliert, und es müsste zum Beispiel zwecks Kontrolle und Chancengleichheit für reguläre Banken von ihnen eine Banklizenz gefordert werden. Vor allem dem Derivatedschungel müsste durch einen Finanz-TÜV begegnet werden, der nur Produkte zulässt, die einen nachweislichen volkswirtschaftlichen Gesamtnutzen haben.

Zudem sollte man die Blütenträume der Bankenunion einstellen: Es ist doch unmöglich, eine Megabank, die in Dutzenden von Jurisdiktionen aktiv ist, innerhalb eines Wochenendes und bei absehbarem Kompetenzstreit zwischen nationalen Behörden abzuwickeln oder zu sanieren, ohne dass der Steuerzahler einmal mehr blutet oder das gesamte Finanzsystem bedenklich ins Wackeln kommt. Wenn schon „Marktwirtschaft“, dann müssen verkleinerte (Trenn-)Banken auch mal wie der Gemüsehändler pleitegehen können, wenn schon, dann harte Budgetrestriktionen für Alle.

Der einheitliche Abwicklungsfonds mit einer Zielabdeckung von einem Prozent der entsprechenden Einlagen – das sind 55 Milliarden Euro, zurzeit sind 18 Milliarden eingezahlt – würde bereits bei einem einzigen größeren Finanzinstitut nicht ausreichen. Das immer noch nicht klar definierte, an den Verlusten zu beteiligende Bail-in-Kapital der Gläubiger von acht Prozent der Bilanz ist unter dem Gesichtspunkt der Haftung nicht gerade viel, könnte aber trotzdem eine Kettenreaktion auslösen, die man doch gerade vermeiden will.

Man meint aber, wenn es mal wieder schiefgeht, gewappnet zu sein und man habe ja im Vorfeld die Suchscheinwerfer mittlerweile eingestellt. Ich halte es für realistischer, proaktiv Strukturreformen vorzunehmen, die eine Krise unwahrscheinlicher machen und wenn sie doch eintritt, die Kosten fairer verteilen zu können. Zur Crashvermeidung würde auch eine Funktionsentflechtung dienen: Heute übernehmen viele Finanzinstitute zu viele Aufgaben gleichzeitig, etwa die Kreditvergabe, Anlageberatung, Fondsverwaltung, und das auch noch international. Kurz: Die Interdependenzen sind zu hoch. So können sich Krisenherde über das globale Finanznetzwerk schnell in alle Ecken ausdehnen. Funktionale und regionale Aufteilungen und Größenbeschränkungen wie beim Glass-Steagall Act seit den 1930er Jahren in den USA würden als Unterbrecher solcher Kaskaden wirken und die Resilienz des Gesamtsystems erhöhen. Das problematische Zusammenspiel von z.B. Kursverlusten, Wertpapierverkäufen, Überschuldungsvermutungen, Verlustbeteiligungen mit eventuellen Kaskadenwirkungen usw., solche Dominosteineffekte würden eingedämmt.

Ein Problem stellt auch das Ziel der schwarzen Null dar, denn in welch halbwegs sichere Anlagen sollen Bürger und Banken in Deutschland denn ihr Geld ohne allzu großes Risiko zukünftig anlegen?

Das alles waren aber jetzt nur Maßnahmen, die die Finanzmärkte unmittelbar betreffen. Wenn man das größere Bild zeichnen will, dann muss man ja wohl auch noch die extrem ungleich verteilten Vermögen, die hohen Ungleichgewichte im Außenhandel und ähnliche Fehlentwicklungen berücksichtigen, die ja ebenfalls Quellen der Instabilität darstellen.

Richtig. Ein weiteres Ziel müsste darin bestehen, das Finanzsystem und den Euro zu stabilisieren, indem man in den Mitgliedsländern eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik betreibt, um das auf zwei Prozent lautende Inflationsziel einzuhalten, womit auch die deutschen Exportüberschüsse angesprochen sind. Sollte sich Deutschland auf die schwarze Null versteifen und bleibt es dabei, dass die privaten Haushalte und die Unternehmen Sparüberschüsse generieren, dann muss es rein saldenmechanisch einen noch höheren Außenbeitrag geben, um diese Überschüsse auszugleichen. Das dürfte nicht gerade zur Stabilisierung des Euro beitragen. Ich frage mich auch oft, wie es möglich sein kann, ausreichend gut bezahlte und sozialökologisch akzeptable Arbeitsplätze in Europa zu halten angesichts globaler Konkurrenzmärkte mit geringen arbeitsrechtlichen oder ökologischen Standards. Das spräche für EU-Grenzausgleichsabgaben (Zölle).

Auch kann man überlegen, warum die öffentliche Hand sich eigentlich angesichts vermeidungsaktiver Wohlhabender so abhängig von Steuereinnahmen macht: eine sinnvolle, internationale Vermögens- oder Erbschaftssteuer à la Piketty dürfte doch wohl noch lange auf sich warten lassen. So müssen die Staaten das Wirtschaftswachstum ankurbeln, um sich finanzieren zu können. Pointiert ausgedrückt: Erst muss der Verkauf dicker Autos unterstützt werden, damit danach der Staat über genug Steuereinnahmen verfügt, um die ökologischen Folgen der Automanie durch grüne Investitionen möglichst zu beheben. Oder man macht sich von auf dem internationalen Finanzmarkt aufgenommenen Krediten abhängig, was sicher auch zum Teil das lammfromme Verhalten des Politestablishments gegenüber den Finanzmarktakteuren erklärt, denn die Hand, die einen füttert, beißt man besser nicht.

Man könnte überlegen, ob nicht zur Rückgewinnung der Handlungspotenz der öffentlichen Hand angesichts wohl nur schwer zurückspulbarer „Binnenmarktfreiheiten“ ein gewisser Teil der Staatsausgaben durch eine nicht zurückzuzahlende Direktüberweisung durch die Zentralbank erfolgen sollte. […] Wie wäre es, wenn über die Verwendung dieses geschenkten Geldes auf der kommunalen Ebene als Bürgerhaushalt abgestimmt würde, z.B. was zuerst: Altenzentrum oder Kindergarten? Der neoliberale Erzbösewicht Milton Friedman hat übrigens in einem Artikel in den 1940er Jahren vorgeschlagen, demokratisch ein bestimmtes Budget beschließen zu lassen, falls die Steuereinnahmen dann höher ausfallen, sollte man die überschüssigen Steuereinnahmen in den Ofen werfen, falls sie niedriger ausfallen, sollte die Zentralbank den Fehlbetrag durch Überweisung ohne Rückzahlungsverpflichtung ausgleichen. Die Geldschöpfung aus dem Nichts würde dann dem Gemeinwohl dienen.

[…]

Herr Peukert, und nun verraten Sie uns zu guter Letzt noch: Wann kommt die nächste Finanzkrise, und wo schlägt sie zu?

Angesichts der Finanzmarktreförmchen mit Handbremse kommt die nächste Finanzkrise trotz des Aufbaus einer riesigen Kontrollmaschinerie mit politisch-bürokratischer Eigendynamik bestimmt. Die seit einigen Jahren wieder stramm ansteigenden Börsenkurse nicht nur in den USA und in Deutschland können als Vorbote gedeutet werden.

Deftige Krisen haben oft die Eigenschaft, ohne größeren Megaeinschlag ganz plötzlich und durch unerwartete, neue Ereigniskombinationen einzutreten, so dass vorher der berühmte (Krisen)Gorilla durchs Bild marschiert und selbst die aufgeblähte Kontrollbürokratie bemerkt ihn trotz angestrengter Argusaugen nicht. Der Kipppunkt könnte durch überschuldete amerikanische Autokäufer oder Studiengebührenkredite, durch Amokhandlungen von the Donald, Erdogan oder anderen Alphamännchen auch innerhalb Europas, womöglich doch nicht leistbare Primärschüsse oder der zu hohe Stand der griechischen Staatschulden eintreten. Oder der Euro scheitert noch wegen Austrittsbestrebungen, oder der Ausstieg aus der ultralockeren Geldpolitik misslingt, oder eine internationale Megabank wird insolvent. Und schließlich: Nie war die internationale Verschuldung von Staaten, Haushalten und finanz- und realwirtschaftlichen Unternehmen mit rund 300 Prozent des Welt-BIP so hoch wie heute und nicht zuletzt wegen Chinas Schuldenrallye deutlich höher als vor Ausbruch der Finanzkrise und klar schneller ansteigend als das Welt-BIP. Ich bin also bezüglich des Absturzpotentials sehr „zuversichtlich“!

[«*] Helge Peukert ist apl. Professor an der Universität Siegen und baut dort den Studiengang Plurale Ökonomik mit auf. Mit „Die große Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise“ und „Das Moneyfest“ hat er zwei kritische Bücher zur Finanzkrise geschrieben und gerade vorherrschende „Mikroökonomische Lehrbücher: Wissenschaft oder Ideologie?“ und „Makroökonomische Lehrbücher: Wissenschaft oder Ideologie?“ (beide Metropolis Verlag, 2018) auch mit Bezug auf die dortige Sicht der Geld- und Finanzmärkte untersucht.

Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=46016

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