Post vom 15.10.2023
Eines der interessanteren Argumente, die ich im israelisch-palästinensischen Konflikt häufig höre, lautet: „Die Hamas hat Israels massive Vergeltungsmaßnahmen zweifellos vorhergesehen, das macht sie umso schuldiger, weil sie palästinensische Leben geopfert hat“. Was die Leute nicht erkennen, ist, dass die Tatsache, dass diese Reaktion – die massive kollektive Bestrafung – in der Tat in hohem Maße vorhersehbar war, genauso viel über Israel aussagt wie über die Hamas. Sie sagt aus 3 Gründen viel über Israel aus.
1) Es sagt viel über das Image Israels aus, dass erwartet wurde, dass es mit massiver kollektiver Bestrafung reagiert und damit gegen internationales Recht verstößt.
2) Es sagt auch viel über Israels Unfähigkeit aus, strategisch zu denken, dass es genau so reagieren würde, wie sein Gegner es vorausgesagt hat. Rache ist keine Strategie, sie ist das Gegenteil von Strategie. Und schließlich
3) sagt es viel darüber aus, dass Israel anscheinend nichts aus den immensen Fehlern der USA bei ihrer Reaktion nach dem 11. September gelernt hat.
Ja, das sagt natürlich auch viel über die Hamas aus, denn sie wusste, dass ihre Aktionen zweifellos unsägliches Leid über ihr eigenes Volk bringen würden (zusätzlich zu dem Leid, das sie mit den Anschlägen verursacht haben). Das ist keine Frage. Es sieht leider so aus, als wäre dies ein Wettbewerb darum, wer das meiste Mitgefühl der Außenwelt für sein Leid aufbringen kann. Und so wie ich das sehe, verliert Israel, indem es seinem Gegner in die Hände spielt, auf ganzer Linie.
Selbst Europa – Europa! – steht heute kurz davor, mit einer regelrechten Revolte auf den höchsten Ebenen der Bürokratie gegen Von der Leyen wegen ihrer uneingeschränkten Unterstützung Israels aus der Reihe zu tanzen. Hinzu kommt die erneute Unterstützung der palästinensischen Sache durch die muslimische Welt und generell durch den gesamten globalen Süden (mit der bemerkenswerten Ausnahme Indiens, das heute unter Modi so ziemlich auf Islamophobie setzt).
Ich lehne mich hier weit aus dem Fenster und stelle die Hypothese auf, dass die Hamas als Organisation damit Selbstmord für die palästinensische Sache begangen hat. Die Hamas wird das zweifellos nicht überleben, das ist ziemlich klar. Und leider werden Tausende von unschuldigen Menschen ihr Leben lassen müssen. Aber sie haben die gesamte Weltöffentlichkeit auf ihr Thema aufmerksam gemacht, und die Reaktion Israels führt dazu, dass die Palästinenser den Sympathiekrieg gewinnen.
Was hätte Israel stattdessen tun sollen? Nun, es hätte erkennen müssen, in welchen Krieg die Hamas es hineinzieht. Nicht in einen Krieg gegen sie an sich, sondern in einen Krieg um die Herzen und Köpfe. Sie haben den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen. Das ist verblüffend, weil sie zu Beginn die Oberhand hatten, bei weitem. Sie hätten die ersten Angriffe nutzen können, um immense Unterstützung zu gewinnen, eine Trauerzeit auszurufen und einen Großteil der Welt für die gerechte Sache zu gewinnen, keine unschuldigen Zivilisten zu töten.
Stattdessen haben sie damit begonnen, dies in einem noch größeren Ausmaß zu tun: Bislang haben sie 614 Kinder und 370 Frauen getötet. Das ist ein unfassbarer und folgenschwerer Fehler.
Dieser Krieg offenbart auch etwas Interessantes, und damit möchte ich schließen. Er zeigt, wie viel Macht und Einfluss der Westen im weiteren Sinne verloren hat, wenn es darum geht, die globale Diskussion zu führen. Erinnern Sie sich an die Zeit nach dem 11. September, als die USA mit der Invasion in Afghanistan ähnlich überzogen reagierten wie Israel heute? Damals hörten wir keine nennenswerte Opposition. Er war zwar vorhanden, aber unhörbar. Heute dagegen ist er so überwältigend, dass sogar Europa – Europa! – sich gezwungen sieht, zu widersprechen. Was sie natürlich nie aus reiner Moral tun würden, sondern weil sie mit dem Rücken zur Wand stehen, weil sie, wie sie sagen, „den globalen Süden nicht verlieren wollen“, was 2001 nicht einmal im Entferntesten ein Faktor war. Schließlich haben wir gerade gesehen, dass die USA China – China! – gebeten haben, „ihren Einfluss zu nutzen, um auf eine Beruhigung des Nahen Ostens zu drängen“: Das wäre vor 22 Jahren absolut undenkbar gewesen, was ein besserer Beweis dafür ist, dass sie selbst ihren Einfluss verloren haben. Einfluss, den sie ironischerweise genau aus dem Grund verloren haben, weil sie vor 22 Jahren überreagiert haben: wie ironisch, dass sie heute China um Hilfe bitten, um eine weitere Überreaktion zu unterstützen, sie können wirklich nicht anders…
Übersetzt mit DeepL
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One of the more interesting arguments I’ve been seeing A LOT on the Israeli-Palestinian conflict is: „Hamas undoubtedly predicted Israel’s massive retaliation, that makes them all the more guilty for sacrificing Palestinian lives“. What people don’t realize is that the fact this reaction – the massive collective punishment – was indeed immensely predictable says just as much about Israel than it does about Hamas. It says a lot about Israel for 3 reasons.
1) It says a lot about Israel’s image that it was expected to react with massive collective punishment, violating international law.
2) It also says a lot about Israel’s inability to think strategically that it would react in exactly the way its adversary predicted it to. Revenge is not a strategy, in fact it is the opposite of strategic. And, lastly
3) it says a lot that Israel doesn’t seem to have learned a thing from the US’s immense mistakes in its post 9-11 response. Yes, of course, it also says a lot about Hamas, because they knew their actions would undoubtedly cause untold suffering on their own people (on top of the suffering they caused with the attacks). No question there. This looks to be, unfortunately, a competition for whom can gain the most sympathy from the outside world for their suffering. And from where I am standing, Israel is losing big time by playing into the hand of its adversary.
Even Europe – Europe! – is on the verge today of breaking ranks with a full-on revolt at the highest levels of the bureaucracy against Von Der Leyen for her unqualified support for Israel. This is on top of renewed support for the Palestinian cause by the Muslim world, and generally the entire global South (with the notable exception of India, who pretty much runs on Islamophobia today under Modi).
I’m going to go out on a limb here and hypothesize that this was Hamas, as an organization, committing suicide for the Palestinian cause. Hamas undoubtedly won’t survive this, it’s pretty clear. And sadly thousands of innocent lives will be lost. But they’ve focused the entire global conversation on their topic and Israel’s reaction is making Palestinians win the sympathy war.
What should Israel have done instead? Well, they should have recognized which war Hamas was baiting them into. Not a war against them per se, but a war for hearts and minds. They missed the forest for the trees. Which is stunning because they started with the upper hand, by far. They could have used the initial attacks to rally immense support, declare a period of mourning, unify much of the world around the just cause of not killing innocent civilians. Instead, they started doing so in turn, on an even grander scale: so far they’ve killed 614 children and 370 women. It’s an unfathomable and immensely consequential mistake. This war also reveals something interesting, and I’ll end with this. It reveals how much power and influence the wider West has lost in driving the global conversation. Remember post 9-11, when the US had much the same overaction as Israel today by invading Afghanistan? At the time we didn’t hear any significant opposition. It was there for sure but it was inaudible. Today by contrast it is so overwhelming that even Europe – Europe! – feels compelled to dissent. Which of course they’d never do out of pure morality, they do so because they have their back against the wall, in their words they „don’t want to lose the global South“, which wasn’t even remotely a factor back in 2001. Heck we just saw that the US asked China – China! – to „use its influence to push for calm in the Middle-East“: this would have been absolutely unthinkable 22 years ago, what better proof that they themselves lost their influence? Influence ironically lost for the very reason that they overreacted 22 years ago: how ironical that they’d ask for China’s help today in supporting yet another overaction, they really can’t help themselves…
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