Günter VERHEUGEN: „Willentlich und wissentlich eine Linie überschritten“

berliner-zeitung.de

Günter Verheugen: „Willentlich und wissentlich eine Linie überschritten“

Michael Maier

11.02.2023

13–16 Minuten


Berliner Zeitung: Herr Verheugen, Sie haben Ihre Karriere als FDP-Außenpolitiker begonnen. Der legendäre Hans-Dietrich Genscher war ein Mann des Dialogs und der Aussöhnung. Wie haben Sie ihn erlebt?

Günter Verheugen:  Ich folgte Genscher 1974 in das Auswärtige Amt. Später saßen wir uns zehn Jahre lang im Auswärtigen Ausschuss gegenüber. Ich habe von ihm gelernt, dass man, egal was auch geschieht, immer miteinander reden muss. Man darf niemals die Gesprächskanäle abreißen lassen. Man muss bei allen Gegensätzen und bei allen Konflikten immer versuchen, das Gemeinsame zu suchen. Genschers Prinzip, das ich teile, war Kooperation, nicht Konfrontation.

Nach dem Fall der Mauer und dem Untergang der Sowjetunion waren Sie einer der Vordenker der Europäischen Union. Welche EU stand den Politikern damals vor Augen?

Es war für uns alle völlig klar, das ein vereintes Deutschland nur im Rahmen eines vereinten Europas für die übrigen Europäer dauerhaft erträglich sein würde. Ein völlig ungebundenes Deutschland kam nicht in Frage. Uns war zugleich völlig klar, dass ein integriertes Europa nur funktionieren würde, wenn es einen engen Schulterschluss zwischen Deutschland und Frankreich gibt. Der traurige Zustand der EU auf der internationalen Bühne rührt daher, dass es den Gleichklang zwischen Deutschland und Frankreich nicht mehr gibt.

Kam der Bruch nur von der deutschen Seite? Die Franzosen haben immer versucht, den Deutschen klarzumachen, dass es ein autonomes, in eigener Verantwortung handelndes Europa braucht. Unmittelbar nach der Wende, nach dem Zerfall der Sowjetunion, gab es eine kurze Phase, in der ein eigenständiges Europa möglich gewesen wäre. Das drückte sich in der Charta von Paris aus, Gorbatschow sprach vom gemeinsamen europäischen Haus. Da hat man den Schritt nicht getan, sich von den USA zu emanzipieren, weil das die Nato in ihren Grundlagen verändert hätte. (…)