Katalonien – Lage kurz vor der Rede Puigdemonts

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Martin Zeis, 10.10.2017

In einer Stunde wird der Ministerpräsident Kataloniens, Carles Puigdemont, im Regionalparlament eine Rede zur „aktuellen politischen Situation“ halten.

Puigdemont bewegt sich dabei in einem komplexen inneren (Katalonien + Spanien) und äußeren (v.a. EU, Großbanken/Konzerne im Verbund mit der Rajoy-Minderheitsregierung), Kräftefeld.

Dazu ein stichwortartiger Rückblick auf die Entwicklung des Konflikts seit 2005.

(Zur Geschichte der Selbstverwaltung und des Kampfs um Autonomie – auch in Katalonien – vgl. einen Aufsatz von Stephan Best: Kronstadt und Katalonien, 9.10.2017, URL: https://steven25.com/2017/10/09/kronstadt-und-katalonien9 )

2005 hatte das katalanische Parlament mit 90 Prozent der Stimmen ein neues Autonomiestatut beschlossen, das lt. Verfassung im spanischen Parlament zu verhandeln/billigen war. Das Versprechen des damaligen spanischen Ministerpräsidenten José Luis Rodríguez Zapatero (2000 bis Feb. 2012 PSOE-Vorsitzender) den katalanischen Entwurf unverändert anzunehmen, wurde u.a. von seinen eigenen Parteifreunden, u.a. dem sozialistischen Präsidenten der Verfassungskommission Alfons Guerra torpediert. Eine wichtige Rolle dabei spielten die Putschdrohungen des spanischen Heeres, es werde „einschreiten“, sollte das neue Autonomiestatut so beschlossen werden.

Das Parlament entfernte wesentliche Elemente des neuen Autonomiestatuts:

  • Katalonien wurde im ersten Artikel nicht mehr als „Nation“ bezeichnet;
  • Die katalanische Finanzhoheit wurde gestrichen. Das Finanzierungsmodell lehnte sich an die 30 Jahre lang bewährte Praxis des Baskenlands an: Katalonien nimmt die Steuern ein und führt jährlich nach Verhandlungen einen Teil an den Zentralstaat ab;
  • Gekippt wurde ebenso die Pflicht für alle Richter, Militärs, Beamte die katalanische Sprache zu benutzen; Katalanisch sollte die bevorzugte Sprache sein und für alle Bewohner verpflichtend zu lernen. (1)

Trotz dieser Verstümmelung stimmten am 18.6.2006 im folgenden Referendum 73,9 Prozent für das neue Autonomiestatut. Die niedrige Wahlbeteiligung (knapp 50 Prozent) lag u.a. daran, dass die linksnationalistische „Republikanische Linke Kataloniens“ (ERC) wegen der o.a. Abhobelungen aufforderte mit Nein zu stimmen. Viele Wähler der ERC, die in Wahlen bis zu 17 Prozent erreichte, wollten nicht zusammen mit der äußersten Rechten, der Rajoy-Partei PP (Partido Popular), stimmen und gaben ungültige Wahlzettel ab oder blieben der Wahl fern. Nach Unterzeichnung durch den König trat das Autonomie-Statut am 19.8.2006 in Kraft.

Die PP-Fraktion im katalanischen Parlament legte daraufhin Verfassungsklage gegen dieses neue Autonomiestatut ein. Das von Spezies der PP durchsetzte Verfassungsgericht ließ sich vier Jahre bis zur Urteilsverkündung Zeit, erklärte neben den oben angeführten weitere 11 Artikel für verfassungswidrig und verlangte an 27 weiteren Änderungen.

Das Urteil rief große Empörung bei der Bevölkerung und den verschiedenen Institutionen Kataloniens hervor. Am 10.7.2010 folgten dem Aufruf des Kulturvereins Òmnium Cultural und weiteren über 200 Gruppen und Institutionen „Som una nació. Nosaltres decidim!“ (‚Wir sind eine Nation. Wir entscheiden!‘) auf einer Demonstration und Kundgebung in Barcelona über eine Million Bürger.

Am 11.9.2012, dem katalanischen Nationalfeiertag, der unter dem Motto „Katalonien, ein neuer Staat in Europa“ stand, demonstrierten 1,5 Millionen auf den Straßen Barcelonas für die Unabhängigkeit. In einer kurz zuvor von El Pais veröffentlichten Umfrage wollten 51,1 Prozent für die Unabhängigkeit stimmen.

Der damalige Ministerpräsident Artur Mas (Partei „Konvergenz und Einheit“ CiU) erklärte, die wichtigste Schlacht sei jetzt, die volle Finanzsouveränität gegenüber der Zentralregierung durchzusetzen.

„Mas rechnete vor, man hätte kaum Schulden, anstatt die am höchsten verschuldete Region zu sein, wenn das Geld in der Region bliebe. Die Regionalregierung will deshalb für die Rettungsmilliarden keine Auflagen erfüllen. Denn das bedeutet, dass die Konservativen, die ohnehin etwas gegen die Autonomierechte haben, noch stärker über Auflagen in die begrenzte Autonomie hineinregieren würden.

Man fordere nur einen Teil des Geldes zurück, das bisher an Madrid gezahlt worden sei, sagte Mas. Die Katalanen wollen wie die Basken die Steuern selbst einzuziehen und danach mit Madrid darüber verhandeln, welche Summe abgeführt wird. Mit diesem System fahren die Basken seit Jahrzehnten einigermaßen gut. Das zeigt sich daran, dass die eigene Steuer-, Struktur-, Industrie- und Sozialpolitik auch dazu geführt hat, dass die Basken deutlich besser durch die Krise als der Rest des Landes kommen. Das zeigt sich auch an der deutlich niedrigeren Arbeitslosen- und Verschuldungsquote deutlich.“ (2)

Bei den vorgezogenen Neuwahlen zum Regionalparlament der Autonomen Gemeinschaft Katalonien am 27.9.2015 errangen die Parteien, welche für eine Unabhängigkeitserklärung eintreten – Junts pel Si (Wahlbündnis „Zusammen für Ja“) und CUP (3) – die absolute Mehrheit der Mandate (72 von 135) bei einem 48%igen Anteil an den gültigen Wählerstimmen.

Sept./Okt. 2017 Der Versuch des Rajoy-Regimes in Tateinheit mit dem Verfassungsgericht das Referendum zu verhindern — per Verbot, mit Anklagen wg. Anstachelung zum „Aufruhr“, Veranstaltungsverboten, Sperrung von mehr als 100 Websites, Verhaftung von Regierungsmitgliedern, dem brutalem Einsatz der Guardia Civil und Nationalpolizei, um die Katalanen an der Ausübung ihres Wahlrechts zu hindern oder die Wahllokale zu stürmen + die Wahlurnen mit den abgegebenen Stimmzetteln zu beschlagnahmen, scheiterte an dem vielfältigen klugen, kreativen, friedfertigen Widerstand von Millionen – es gelang mehr als 2,2 Millionen WählerInnen in 2000 Wahllokalen ihre Stimme abzugeben bei einem 90%igem JA zur Unabhängigkeit; nur in knapp 100 Wahllokalen konnten die Urnen beschlagnahmt werden.

Im Gefolge des Referendums wurde der Druck auf die katalanische Regierung von verschiedenen Seiten erhöht.

König Felipe forderte Rajoy auf durchzugreifen und die „verfassungsmäßige Ordnung“ wiederherzustellen, was als Hinweis verstanden werden kann, Art. 155 anzuwenden, d.h. die katalanischen Institutionen aufzulösen und unter zentrale Zwangsverwaltung zu stellen. (4)

Die Maske fallen ließ vorgestern der Sprecher der Rajoy-Partei PP, Pablo Casado, der kaum verhüllt dem katalanischen MP Folter und Mord androhte. Anspielend auf das Schicksal des früheren katalanischen Regierungschefs Companys, der nach dem Putsch der Franko-Faschisten und dem Ende des spanischen Bürgerkriegs nach Frankreich floh, dort später von der Gestapo verhaftet, an Spanien ausgeliefert, schwer gefoltern und exekutiert wurde, drohte Casado, Puigdemont könne wie dieser enden.

Die EU-Kommission verkündete am 5. Oktober, dass ein unabhängiges Katalonien kein Mitglied der EU bleiben könne und sein Finanzsystem demzufolge von der Finanzierung durch die EZB abgeschnitten werde. Das veranlasste verschiedene spanische Banken und Großunternehmen, ihren Hauptsitz aus Katalonien zu verlegen – denn sie sind zum Überleben auf EZB-Nullzinskredite angewiesen, und diverse Konzerne brauchen die EZB als einen wichtigen Aufkäufer ihrer Unternehmensanleihen. Möglich geworden war diese Blitzaktion dadurch, dass Regierung bereits am 6.10. ein Notstands-Dekret erließ, das es spanischen Unternehmen erlaubt, ihren offiziellen Firmensitz innerhalb von 24 Stunden in andere Landesteile zu verlegen. Außerdem entbindet es sie von der gesetzlich verankerten Pflicht, vor einer derartigen Entscheidung das Einverständnis ihrer Aktieninhaber einzuholen. (5)

Gestern hat die Bürgermeisterin von Barcelona, Ada Colau, zur Entspannung des Konflikts aufgerufen: „Was wir jetzt brauchen, sind Gesten der Entspannung von beiden Seiten … Wir brauchen keine Eskalation, die niemandem etwas bringt.“ Sie rief den spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy dazu auf, die nach Katalonien entsandten Polizeieinheiten wieder abzuziehen. Er dürfe die katalanischen Institutionen nicht entmachten. (6) Mit dieser Position trifft Colau – unbeschadet der Haltung zur einseitigen Unabhängigkeitserklärung, die sie nicht teilt – die der großen Mehrheit in der spanischen Gesellschaft.

Die Rede Puigdemonts heute Abend wird einen Weg aufzeigen müssen, der das skizzierte Kräftefeld berücksichtigt, d.h. die Position der Unabhängigkeit ist in einen Weg des weiteren Dialogs, der Verhandlungen (inklusive der vorliegenden Vermittlungsangebote z.B. der Schweiz, der Aufforderungen des EU-Parlaments …) einzubetten.

Parallel müsste versucht werden, die Minderheitsregierung von Rajoy durch eine (neuversuchte) Koalitionsregierung von Unidos Podemos, der PSOE und der baskischen Fraktion abzulösen, um auch Spielraum für den o.a. Verhandlungsprozess zu schaffen.

Wie man sich an der Basis in Katalonien auf mögliche Eventualitäten vorbereitet, berichtet aktuell Ralf Streck aus Barcelona:

„Die anarchosyndikalistische CGT arbeitet schon an einem neuen Generalstreik, nach dem großen Streik am vergangenen Dienstag. Damit will sie auf eine Repressionswelle antworten können. Es zirkuliert schon das Modell für einen katalanischen Personalausweis. Angesichts der Verlegung von Firmen- und Banksitzen wechseln viele Leute die Bank, den Telefon- oder Stromanbieter. Per Telegram kommen täglich neue Vorschläge aufs Handy, Tablet oder den Computer, was „du heute tun kannst“. Von der Caixa zur Banca Etica wechseln, von Endesa und Iberdrola zu Kooperativen wie Somenergia oder Factoreneria, von Gas Natural zu Catgas lauteten die Vorschläge am Montag, denen sogleich viele nachkommen, um katalanische Genossenschaften zu stützen und gegen die Erpressung zu protestieren.“ (7)

Anmerkungen

(1) vgl. Grundgesetz 6/2006 vom 19. Juli zur Novellierung des Autonomiestatuts von Katalonien (dt. Übers.) – URL: https://www.parlament.cat/document/cataleg/150267.pdf

(2) zit.a. Ralf STRECK: „Katalonien, ein neuer Staat in Europa“, TP 12.09.2012; URL: http://www.heise.de/tp/features/Katalonien-ein-neuer-Staat-in-Europa-3395659.html?view=print

(3) Junts pel Sí ist ein katalanisches Wahlbündnis, das im Juli 2015 in Barcelona für die Regionalwahl 2015 gegründet wurde und eine Koalition darstellt aus der Mitte-Rechts-Partei Convergència Democràtica de Catalunya (CDC) mit dem damaligen katalanischen Ministerpräsidenten Artur Mas als Vorsitzendem und der linksrepublikanischen Esquerra Republicana de Catalunya (ERC) mit dem Vorsitzenden Oriol Junqueras. Außerdem sind in dem Bündnis parteipolitisch nicht aktive Mitglieder aus Kunst und Sport vertreten, wie der Fußballtrainer Pep Guardiola und der Liedermacher Lluís Llach. — Die Candidatura d’Unitat Popular (Kandidatur der Volkseinheit, CUP) ist ein in Katalonien entstandener parteipolitischer Zusammenschluss. Die CUP gehört zum linken Teil des Parteienspektrums in Katalonien. Neben links-alternativen und antikapitalistischen Gruppierungen finden sich vor allem auch sozialistische und anarchistische Gruppierungen in der CUP zusammen. (zit.a. https://de.wikipedia.org)

(4) eine detaillierte Beschreibung/Erklärung möglicher Verfahrensweisen (Szenarien) nach Art. 167 und 155 der spanischen Verfassung findet sich einem von Marc de-Muizon verfassten Paper der Deutschen Bank (vgl. zerohedge-Dokumentation vom 06.10.2017 „Catalan Independence: Deutsche Bank Explains How We Got Here & What Happens Next“; URL: http://www.zerohedge.com/news/2017-10-06/catalan-independence-deutsche-bank-explains-how-we-got- here-what-happens-next

(5) vgl. Ernst Wolff: Wie Finanzindustrie und Politik Katalonien in die Knie zwingen; TP 9.9.2017 – URL: http://www.heise.de/tp/features/Wie-Finanzindustrie-und-Politik-Katalonien-in-die-Knie-zwingen-3852508.html

(6) vgl. Spiegel online, 10.10.2017

(7)http://www.heise.de/tp/features/Wird-die-Unabhaengigkeit-Kataloniens-am-Dienstag-erklaert-3853744.html